Kulturtreff proudly presents: Die beiden preisgekrönten Texte des kreativen Schreibwettbewerbs zum Thema “EUROPA – wo wir leben, lieben, arbeiten und reisen” vom Frühjahr 2024.
Wir haben kurze Geschichten gesucht, die in Europa spielen oder von Europa handeln, einen Bericht über ein wahres Erlebnis, ein Gedicht oder einen Tagebucheintrag, einen Brief oder Dialog. Alle Texte waren willkommen – ob berichtend oder kritisch, lustig, nachdenklich, visionär oder wortverliebt.
Eine dreiköpfige Jury, bestehend aus einem Autor des Autor:innenzentrums Hannover, einer Schreibtherapeutin und einem Vorstandsmitglied des Kulturtreffs Bothfeld, hat die nachfolgenden Texte aus allen Einsendungen ausgewählt.
In der Alterskategorie unter 40 Jahren ist es das Gedicht von Artemis Wind:
Europa
Patriotismus
Süße Volksdroge,
wie hast du dieses Land zerklaubt?
Wie hast du dir
Vor Stolz
Deinen Wert geraubt?
Vaterland
auf Mutter Erde
Zweiheimiger Nirgendheim
Gleich dem Kind
Getrennter Eltern
Zwischen euch
Allein
Bin mehr der Welt
als meines Landes
und der Knoten
eures Bandes
Was bin ich schon?
Molekül der Erde
Und Atom des ganzen Raums
Elektron vielleicht
Runden rasend
Am Ende bin ich
Mein
Hier bin ich in die Welt geworfen Umgeben von deutschem Gebiet
Hinter Kriegen in die Einigkeit
Europa
in dein gutes Gefried
War es nicht
Nur reingeplumpst
Und brauch dich doch, mein Zuhause!
Brauch dich wenn
Das Land zu eng
Die Globalität gigantisch wird
Brauch dich,
wenn sich meine Augen
An der Welt so blind geschaut
Millionenvoll und voller Menschen,
die sich in Einsamkeit umgrenzen
gemauert
gehüllt
in Staatenhaut
Europa
Will in deinem Nest
Meine Flügel spreizen
Doch sie woll‘n mich an sich reißen
nicht begreifen
Wie sie von sich
Ihre Kinder schmeißen
In der Alterskategorie über 40 Jahren ein Text von Christiane Rösler:
Ich friere und stinke nach altem Schweiß. Bitterer Geschmack in meinem Mund. Unendlich müde.
Zu schwach mich umzudrehen. Mühsam spanne ich die wenigen verbliebenen Muskeln an und
wende den Kopf. Minute um Minute vertropfen meine letzten Tage in der farblosen Infusion, die
meine Schmerzen lindern soll.
Ich bin allein. Niemand, der mit mir den drohenden Verlust meines geliebten Lebens betrauert.
Wie auch. Ich habe immer gearbeitet, für meinen Beruf gelebt, keine Zeit für Familie, nur für
andere, nie für mich. Vor einem Jahr Brustkrebs mit Knochenmetastasen. Im Kopf wächst auch
etwas, was da nicht hingehört. Jetzt Endstation Hospiz. Ich bin achtundvierzig Jahre alt.
Reisen kann ich, wenn ich in Rente gehe, habe ich immer gelacht, wenn ich das nächste Projekt
übernommen habe. Falsch gedacht. Nie mehr die Champs-Élysées, nie mehr Prater, nie mehr die
ewige Stadt für mich. Ich sterbe. Und das sehr bald.
Eine Träne kriecht über meine Wange. Immer noch Tränen, obwohl ich schon so viel über die
schreckliche Ungerechtigkeit des Lebens geweint habe. Meine Augäpfel rollen zum Fenster, das in
einen frostigen Februarhimmel starrt. Bleischwere Lider.
Eine Hand berührt unversehens meine Schulter.
„Entschuldigung, Ihren Fahrschein bitte.“
Verwirrt öffne ich die Augen. Verschmitztes Männerlächeln unter einer adretten Schirmmütze.
„Aber…“, bringe ich mühsam heraus.
Schon hat der Schaffner eine Karte aus meiner rechten Hand gezogen.
„Das Europareiseticket, alles inklusive, natürlich erster Klasse.“ Er nimmt kurz Haltung an
und salutiert. „Einfach Wunschort wählen – unser Zug macht alles möglich.“ Er deutet auf das
Display im Tisch vor mir. Dort stehen in verschnörkelten Buchstaben alphabetisch sortiert alle
europäischen Hauptstädte. „Wenn etwas nicht dabei ist – hier unten eintippen. Viel Spaß!“
Er verschwindet durch eine Schiebetür. Ich sitze auf einem grün gepolsterten Diwan in einem
mahagonigetäfelten Zugabteil, das verblüffend an den Orient-Express erinnert. Felder und Wiesen
gleiten unter einem blauen Schäfchenwolkenhimmel vorbei. Ich fühle mich etwas benebelt. Aber
ich habe keine Schmerzen und kann ohne Anstrengung meine Hand heben. Keine Infusionskanüle
mehr.
Ich bin zu verwundert, um mich weiter zu wundern.
Mein Blick fällt auf das Display. Soll ich es ausprobieren? Zögernd tippe ich auf „Paris“. Der Zug
nimmt gehorsam eine sanfte Kurve, und wenige Augenblicke später fahren wir durch Straßen im
Fin de Siècle-Stil. Von vorwitzigen Balkonen flattern französische Fähnchen. Kurz blendet mich
die Sonne, die sich in den Glaspyramiden des Louvre verfangen hat.
Hier gibt es doch keine Schienen, schießt es mir durch den Kopf. Aber dieser Zug kann vielleicht
wirklich alles.
Wir umrunden die schmiedeeisernen Füße des Eiffelturms. Ich rutsche ganz nah an das Fenster
heran, presse die Backe an die kühle Scheibe und versuche seine Spitze zu erkennen. Unbeschreibliches
Glücksgefühl durchströmt mich. Dass ich das noch erleben darf! Brennende Tränen. Ich will
mir über die Augen wischen und berühre aus Versehen einen anderen Knopf.
Plötzlich Rom. Mächtige steinerne Kuppeln, der Zug rollt über den Petersplatz. Die wartende
Menge teilt sich vor uns. Unvermittelt tritt der Papst auf den Balkon des Petersdoms und winkt
mir zu. Die Menschenmassen jubeln und klatschen. Mir wird ganz warm vor Freude. Doch der
Europazug schnurrt bereits am Colosseum vorbei. Millionen von Staren verdunkeln den Himmel
und zeigen ihre Flugarabesken.
„Danke“, flüstere ich ergriffen. Ich liebe Vögel und habe mir immer gewünscht, das einmal
zu sehen.
Mit tränenblinden Augen ertaste ich den nächsten Knopf. Ein kurzes Rumpeln, und als ich wieder
klar sehen kann, liegt zu meiner Rechten bereits der Buckingham Palace. Gedämpftes „God save
the King“ dringt durch die Scheiben meines Abteils, während wir eine stattliche Parade von Bärenfellmützen
überholen.
Ich tippe auf „Prag“. Wunschgemäß taucht die goldene Stadt vor mir auf. Die astronomische Rathausuhr
zeigt drei Uhr. Auf der Karlsbrücke drängeln sich die Touristen.
Ich werde mutiger. Jetzt ruckeln Lissabons bunte Häuser an meinem Fenster vorbei. Der Zug wird
langsamer, als er sich durch die steilen Gässchen quält. Vor uns glitzert das blaue Meer. Obwohl
das Abteil geschlossen ist, kann ich die salzige Brise riechen.
Auf der Schaltfläche drücke ich nun einen Knopf nach dem anderen. Das Wiener Riesenrad, die
kleine Meerjungfrau aus Kopenhagen, die Akropolis in Athen: Ich kann mich kaum satt sehen,
muss lachen und weinen vor Glück. Amsterdam verzaubert mit seinen Grachten, der Warschauer
Kulturpalast nickt mir hochmütig zu, das Atomium in Brüssel ist nicht minder eingebildet. Die
klassizistischen Gebäude an der Donaupromenade in Bratislava blinken frisch geweißelt. Kurz
schwebt meine Hand über Kiew. Nein, da ist Krieg, erinnere ich mich, und ich traue mich auch
nicht Moskau zu drücken. Weiter durch die schneebedeckten Alpen nach Bern, dann Madrid, Oslo,
Riga, Sofia und Budapest.
Jetzt werde ich übermütig. Ob der Zug schwimmen kann? Mein Finger berührt „Reykjavik“. Sacht
gleitet der Zug an der hoch aufragenden Hallgrimskirche vorbei. Der Abend fällt. Plötzlich zucken
überirdische Farben am Horizont.
„Nordlichter!“ rufe ich begeistert. „Wunderschön!“ Mein Herz klopft wie verrückt. Ich
lache atemlos. Vorbei an dickmähnigen Islandpferden und tosenden Wasserfällen.
Ich werde müde. Keine Hauptstadt, doch Stadt meiner Kindheit. Mit schweren Fingern tippe ich
langsam „MÜNCHEN“ in das Display. Der Marienplatz in all seiner Pracht taucht vor mir auf.
Die roten Geranien am neugotischen Rathaus grüßen mich freundlich. Unversehens wird der Zug
langsamer. Mit leisem Zischen hält er an. Es klopft. Der nette Schaffner steht wieder vor mir.
„Wie war die Reise? Sagen Sie nichts, Sie sehen so glücklich aus. Hier ist die Fahrt leider zu
Ende. Aber ich habe jemanden mitgebracht. Der hat sich schon lange auf Sie gefreut.“
Kurz tippt er an seine Mütze, dann tritt er beiseite. Da steht mein Vater. Er lächelt mich an, und
ich muss im selben Moment ganz schrecklich weinen.
„Lieber Papa, ich habe dich so vermisst“, flüstere ich erstickt.
„Ich dich auch, meine liebe Tochter.“ Er streckt seine Hand aus. Ich ergreife sie, und sie
ist überraschend warm und fest und tröstlich. Wir sehen uns in die Augen. „Alles wird gut.“
„Ist doch schneller gegangen, als ich gedacht habe“, meint die Krankenschwester. „Ich rufe
jetzt den Arzt wegen des Totenscheins an.“
„Sie sieht so friedlich aus.“ Die junge Schwesternschülerin betrachtet ein bisschen ängstlich
die glitzernden Tränen in meinen Augenwinkeln.
Dann wird alles hell.